Interview mit Prof. Emanuel Richter über Bürgerräte

Mehr Demokratie: Wie viel Mehr an Demokratie ist in gelosten Bürgerräten?

Bürgerräte bedeuten auf jeden Fall einen demokratischen Gewinn. Es geht darum, dass man Leute anspricht, die man sonst nicht für die Politik erreicht. Außerdem erzielt man eine andere Art von Beratung, eine intensivere, pluralistischere Beratung. Beides ist ein demokratischer Gewinn. Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, das Gelingen der Demokratie zu sichern, aber Bürgerräte sind da auf jeden Fall ein Plus.

Für mein Buch „Seniorendemokratie“ war ich in letzter Zeit viel unterwegs. Was ich sehe, ist das Problem der Generationskonflikte, das jetzt, durch Pandemie oder die Nachhaltigkeitsdebatte, hochkocht. Ich finde interessant, dass die Generationsbrüche – die es gibt – auf solchen Wegen auch ein bisschen gemindert oder überbrückt werden können. In Bürgerräten – dank des Zufallsprinzips – sitzen junge und alte Menschen zusammen und in bekommen da einen Blick auf die andere Seite. Das finde ich wichtig, weil tatsächlich viele (auch die Medien) gerade sehr stark darauf abheben, dass es neue Generationskonflikte gibt, die uns noch beschäftigen werden in den kommenden Jahren. Es gibt also Formen des Austauschs, die darauf ausgelegt sind, diese Konflikte auf den Tisch zu bringen, sie sogar abzumildern und zu lösen.

 

Mehr Demokratie: Wie kann die Unabhängigkeit des Bürgerrats gewahrt werden? Sehen Sie die Gefahr eines Missbrauchs durch Parteien oder Organisationen durch einseitige Expert:innenauswahl?

Diese Gefahr ist natürlich immer gegeben, wobei aber die größte Hürde ist, was aus einem Bürgerrat in Hinblick auf die Entscheidungsprozesse wird. Bürgerräte arbeiten üblicherweise Empfehlungen aus, die aber formal unverbindlich sind. Da stellt sich immer die Frage, was dann damit passiert. Es kann das ganze Verfahren entwerten, wenn Stadtverordnetenversammlungen oder Entscheidungsträger sich gegen die Empfehlungen sperren. Dann ist gewissermaßen die ganze Bürgerkompetenz verspielt, und das ist das größte Problem, also nicht unbedingt die Tücken des Verfahrens selber. Es kann aber auch eine Partei dominieren, wie zum Beispiel in der Schweiz, wo bestimmte Parteien besonders viele Volksabstimmungen angestoßen haben und diese eigentlich immer für die eigenen Zwecke genutzt haben. Aber wenn der Bürgerrat gut gemacht ist, mit Losverfahren und einer breiten Repräsentanz der Bevölkerung, dann ist die Gefahr einer Parteiendominanz ziemlich gering.

 

Mehr Demokratie: Halten Sie es für zielführend, die Verbindlichkeit der Empfehlungen durch einen Volksentscheid zu schaffen, sollte die Empfehlung nicht von der Politik übernommen werden?

Die Verbindung mit einem Volkentscheid ist natürlich immer sinnvoll. Die Frage ist, ob sie möglich ist. Bei uns auf der Länderebene und in den kommunalen Bereichen ist ja einiges möglich, wobei das ja unterschiedlich verteilt ist auf die Bundesländer. Bürgerräten automatisch Verbindlichkeit zuzusprechen, halte ich allerdings für schwierig. Es geht immer auch darum, dass man nicht nur Entscheidungen vorbereitet, sondern erstmal Meinungen, Perspektiven, Interessen sammelt. Und das sollte man durch zu viel Formalität (also mit dem Ziel, dass unbedingt eine Entscheidung getroffen wird, die verbindlich ist) nicht einschränken. Insofern würde ich sagen, dass man bei den Bürgerräten eine Unverbindlichkeit des Umgangs mit den Beschlüssen beibehalten sollte. Man sollte aber im Bürgerrat darauf hinweisen, dass es die Chance gibt, einen Volksentscheid zu einem Thema anzuleiern, sollten die Empfehlungen nicht ernsthaft behandelt werden oder die entsprechenden politischen gewählten Gremien sich dagegen sperren. Aber auch einen Volksentscheid kann man von Seiten der Amtsträger ausbremsen, daher ist das auch nicht die letzte Garantie, dass man dann doch mit seinem Anliegen durchkommt. Aber die allerletzte Instanz ist dann immer noch Wahlrecht der Bürgerinnen und Bürger, dass nämlich gewisse Repräsentanten, die sich gegenüber den politischen Wünschen des Volkes sperren, nicht wieder gewählt werden.

 

Mehr Demokratie: Wer sollte entscheiden können, wann und über welche Themen ein Bürgerrat stattfindet?

Es wäre gut, wenn es einen Bürgerrat auch von unten geben könnte. Es gibt ja mittlerweile eine gewachsene Aufmerksamkeit der Bürgerinnen und Bürger bei Maßnahmen im Nahraum, also zum Beispiel bei Infrastrukturprojekten, bei Umweltragen, bei Innovationsfragen. Wenn sich da gewählte Amtsträger nicht um die Bürgerinteressen kümmern, neigen die Bürgerinnen und Bürger vermehrt dazu, sich Gehör zu verschaffen. Sie können zum Ausdruck bringen, dass eine Materie genauer behandelt werden sollte und dass es andere Positionen zu dem Thema gibt. Ein selbst in Gang gesetzter Bürgerrat könnte solche Wünsche auffangen. Grundsätzlich gibt es neben dem Bürgerrat unterschiedliche Möglichkeit, sich zu artikulieren, und nach meinem Eindruck nimmt diese Bereitschaft auch zu. Besonders bei Großprojekten muss man immer mit einer Reihe von zivilgesellschaftlichen Einsprüchen rechnen, und das ist auch gut so. Im Rahmen dieser zivilgesellschaftlichen Einsprüche ist der Bürgerrat ein geeignetes Instrument. Also wenn sich gewählte Vertreter weigern, so etwas von oben einzurichten, dann haben die Bürger von unten immer die Möglichkeit, eine Form von Befassung zu erzwingen. Vielleicht wird man nicht immer auf die Idee kommen, einen Bürgerrat einzuberufen, aber man kann auch durch Prostest erzwingen, dass es zu einer öffentlichen Wahrnehmung kommt.

 

Mehr Demokratie: Können losbasierte Bürgerräte als Feigenblatt missbraucht werden, um verbindliche Volksentscheide zu umgehen? (Siehe Grundsatzprogramm von Bündnis90 Die Grünen)

Ich glaube es ehrlich gesagt nicht. Der Mechanismus ist ja, dass der Bürgerrat zuerst kommt, und wenn er dann keinen Erfolg hat oder die Beteiligten zu der Überzeugung gelangen, dass ihre Empfehlungen nicht angemessen behandelt werden, dann kann man ja (solang die Länderregelungen das zulassen, und in Rheinland-Pfalz ist das ja möglich), einen Volksentscheid anstreben. Die Instrumente der Bürgerbeteiligung lassen sich so oder so den Bürgerinnen und Bürgern nicht aus der Hand schlagen.

Es ist natürlich irritierend, dass die Grünen sich da nicht vorwagen und gewissermaßen Angst vor der direkten Demokratie bekommen, aber das ist eine klassische Amtsträgerhaltung. Ich kenne das auch aus meinem Heimatland NRW, wo sich kommunale Vertreter durch Bürgerräte eher bedroht fühlen, was die Hoheit hinsichtlich der Entscheidungskompetenzen angeht. Es wird dann immer die sachliche Expertise angeführt: Können gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger genügend Expertise und Kompetenzen aufbringen, um schwierige Entscheidungen zu treffen? Das scheint jetzt auch bei den Grünen das Problem zu sein, dass sie sich auf der Seite der Parteien, der gewählten Volksvertreter schlagen und nicht auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen die Parteien stellen - also gewissermaßen ein Seitenwechsel. Ich glaube, das liegt in der Natur der Entwicklung der Grünen begründet. Sie haben als soziale Protestbewegung angefangen, haben sich schließlich etabliert und den Marsch durch die Institutionen angetreten. Vor diesem Hintergrund haben sie die Positionen von politischen Repräsentanten angenommen und nicht mehr die von Bürgerinnen und Bürgern, die gegen die politischen Repräsentanten Stellung beziehen.

 

 

Das Interview führte Ina Kuhl.