Interview mit Dr. Manfred Brandt

Wie viel Mehr an Demokratie ist in gelosten Bürgerräten?

Es kommt darauf an, wie die Verfahren  für Bürgerräte ausgestaltet sind, ob und wie sie verknüpft sind mit der Möglichkeit von Volksabstimmungen. Wenn es keine Verknüpfung mit Volksabstimmungen gibt, dann kann es  leicht nur eine neue Spielwiese sein, die von der direkten Demokratie ablenkt.

 

Wie kann die Unabhängigkeit des Bürgerrats gewahrt werden? Sehen Sie die Gefahr eines Missbrauchs durch Parteien oder Organisationen durch einseitige Expertinnen- und Expertenauswahl?

Ja, die Gefahr ist immer gegeben. Das kennen wir auch aus Anhörungen in Parlamenten, es ist schwierig sicherzustellen, dass  möglichst unabhängige Experten angehört werden. Deswegen ist es unbedingt notwendig, dass Bürgerräte selbst abschließend entscheiden, wen sie anhören und dass das Parlament oder die Exekutive nur das Geld und den Organisationsrahmen  für einen Bürgerrat zur Verfügung stellt. Sicherzustellen, dass die bestmöglichen unabhängigen Expertinnen und Experten zur Verfügung stehen, ist nicht einfach, aber zentral für die Qualität der Vorschläge von Bürgerräten. 

 

Halten Sie es für zielführend, die Verbindlichkeit der Empfehlungen durch einen Volksentscheid zu schaffen, sollte die Empfehlung nicht von der Politik übernommen werden?

Ja, da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: Wir haben ja im Moment auf Bundesebene noch nicht die Möglichkeit für Volksabstimmungen. Deswegen würde ich damit anfangen, auf kommunaler Ebene und auf Landesebene Bürgerräte als Verfahrensbestandteil von Volksabstimmungen bzw. Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden einzuführen. Ich kann mir das zum Beispiel so vorstellen: Wenn ein Bürgerbegehren zu einem Thema erfolgreich war, dann kann dazu im Einvernehmen mit den Initiatoren ein Bürgerrat eingerichtet werden. Das Ergebnis des Bürgerrats wird entweder von der Gemeindevertretung bzw. dem Stadtparlament übernommen oder muss den Wahlberechtigten zur Abstimmung vorgelegt werden. Das Gleiche kann ich mir auch auf Landesebene im Rahmen von Volksabstimmungen vorstellen, z.B bei dreistufigen Abstimmungsverfahren: Eine Volksinitiative ist erfolgreich, das Parlament kann dann im Einvernehmen mit den Initiatoren einen Bürgerrat zum Thema der Initiative einsetzen. Das Ergebnis des Bürgerrats wird dann entweder vom Parlament übernommen oder muss dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden. Nach einem erfolgreichen Volksbegehren sollte die Einsetzung eines Bürgerrats auf Antrag der Initiatoren  durchgeführt werden müssen. Das Ergebnis kann dann ebenfalls vom Parlament übernommen oder muss dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden.

 

Wer sollte entscheiden können, wann und über welche Themen ein Bürgerrat stattfindet?

Über Parlamente und Gemeindevertretung aber auch über Bürgerbegehren und Volksinitiativen sollten die Themen gesetzt werden.

Gerade bei der Einführung von Bürgerräten sollten möglichst bürgernahe und gesellschaftlich wirklich  relevante Themen gewählt werden, die die Menschen bewegen. Das Thema “Deutschlands Rolle in der Welt“ ist kein geeignetes Thema für einen Bürgerrat.  Irland hat ein sehr gutes Beispiel geliefert: Es ging um die Lockerung des Abtreibungsverbots,  ein Thema an das sich Parteien und Parlamente selbst nicht ran trauten. Das Thema und die Entscheidung darüber wurden direkt an das Volk delegiert. Das ist ein großer Vorteil von Bürgerräten zur Vorbereitung einer Volksabstimmung: Konflikte, Probleme, die von Parteien bzw. Parlamenten aus Angst vor dem Verlust von Wahlstimmen oder Entscheidungsmacht nicht angefasst werden, über einen Bürgerrat zu lösen. Solche Themen gibt es auch bei uns: zum Beispiel die Tempobegrenzung auf Autobahnen, die Einführung bundesweiter Volksabstimmungen oder Maßnahmen zum Klimaschutz.

 

Können losbasierte Bürgerräte als Feigenblatt missbraucht werden, um verbindliche Volksentscheide zu umgehen? (Siehe Grundsatzprogramm von Bündnis90 Die Grünen)

Die Grünen sind inzwischen eine ganz normale Partei, die sich in etablierten Entscheidungs- und Machtprozessen bewegt (Macht ist nicht negativ gemeint). Und das führt wie bei allen etablierten Parteien dazu, dass Macht nicht gerne abgegeben wird ans Volk. Deswegen versuchen sie von ihrer klassischen Position für Volksabstimmungen runter zu kommen. Die Durchsetzung bundesweiter Volksabstimmungen wird also nicht einfacher.

 

Das Interview führte Ina Kuhl.