Bürgerrat

Um die Debatte um zufällig geloste Bürgerräte zu erweitern, hat der Landesverband Mehr Demokratie Rheinland-Pfalz Interviews mit unterschiedlichen Experten zum Thema Bürgerrat und direkte Demokratie geführt. Das Ergebnis finden Sie hier.

Gekürzte Antworten der Expertinnen und Experten

Die ausführlichen Antworten der Expertinnen und Experten finden Sie links in der Übersicht.

  • 1. Wie viel Mehr an Demokratie ist in gelosten Bürgerräten?

    Prof. Emanuel Richter:

    Bürgerräte bedeuten auf jeden Fall einen demokratischen Gewinn. Es geht darum, dass man Leute anspricht, die man sonst nicht für die Politik erreicht. Außerdem erzielt man eine andere Art von Beratung, eine intensivere, pluralistischere Beratung. Beides ist ein demokratischer Gewinn. Es gibt natürlich viele Möglichkeiten, das Gelingen der Demokratie zu sichern, aber Bürgerräte sind da auf jeden Fall ein Plus.

     

    Dr. Manfred Brandt:

    Es kommt darauf an, wie die Verfahren  für Bürgerräte ausgestaltet sind, ob und wie sie verknüpft sind mit der Möglichkeit von Volksabstimmungen. Wenn es keine Verknüpfung mit Volksabstimmungen gibt, dann kann es  leicht nur eine neue Spielwiese sein, die von der direkten Demokratie ablenkt.

     

    Prof. em. Werner Patzelt:

    Man sollte nicht den großen Begriff „mehr Demokratie“ verwenden, sondern lieber von „besserer Einbringung bürgerschaftlichen Sachverstands in politische Prozesse und Entscheidungen“ sprechen. Falls man ansonsten unter „gelosten Bürgerräten“ das versteht, was Peter Dienel schon vor langer Zeit das „Planungszellenverfahren“ genannt hat, dann halte ich das für eine sehr wertvolle politische Innovation, die wir endlich selbstverständlich machen sollten.

  • 2. Wie kann die Unabhängigkeit des Bürgerrats gewahrt werden? Sehen Sie die Gefahr eines Missbrauchs durch Parteien oder Organisationen durch einseitige Expertinnen- und Expertenauswahl?

    Prof. Emanuel Richter:

    Diese Gefahr ist natürlich immer gegeben, wobei aber die größte Hürde ist, was aus einem Bürgerrat in Hinblick auf die Entscheidungsprozesse wird. Bürgerräte arbeiten üblicherweise Empfehlungen aus, die aber formal unverbindlich sind. Da stellt sich immer die Frage, was dann damit passiert. Es kann das ganze Verfahren entwerten, wenn Stadtverordnetenversammlungen oder Entscheidungsträger sich gegen die Empfehlungen sperren. Dann ist gewissermaßen die ganze Bürgerkompetenz verspielt, und das ist das größte Problem, also nicht unbedingt die Tücken des Verfahrens selber. Es kann aber auch eine Partei dominieren, wie zum Beispiel in der Schweiz, wo bestimmte Parteien besonders viele Volksabstimmungen angestoßen haben und diese eigentlich immer für die eigenen Zwecke genutzt haben. Aber wenn der Bürgerrat gut gemacht ist, mit Losverfahren und einer breiten Repräsentanz der Bevölkerung, dann ist die Gefahr einer Parteiendominanz ziemlich gering.

     

    Dr. Manfred Brandt:

    Ja, die Gefahr ist immer gegeben. Das kennen wir auch aus Anhörungen in Parlamenten, es ist schwierig sicherzustellen, dass  möglichst unabhängige Experten angehört werden. Deswegen ist es unbedingt notwendig, dass Bürgerräte selbst abschließend entscheiden, wen sie anhören und dass das Parlament oder die Exekutive nur das Geld und den Organisationsrahmen  für einen Bürgerrat zur Verfügung stellt. Sicherzustellen, dass die bestmöglichen unabhängigen Expertinnen und Experten zur Verfügung stehen, ist nicht einfach, aber zentral für die Qualität der Vorschläge von Bürgerräten.  

     

    Prof. em. Werner Patzelt:

    Falls aus der Einwohnermeldedatei wirklich eine Zufallsstichprobe gezogen wird, kann es dabei zu keiner Manipulation kommen. Und die Moderatoren müssen eben darauf achten, dass die beigezogenen Verwaltungsmitarbeiter oder Experten nicht als Parteivertreter auftreten, sondern in den Beratungsprozess nur Tatsachen-, Zusammenhangs- und Ordnungswissen einbringen, sich aber eigener Entscheidungsvorschläge enthalten. Sobald diese Grundsätze nicht eingehalten werden, kann man sich das ganze Verfahren ohnehin sparen, weil es dann nur das nachspielte, was auf dem üblichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess ohnehin abläuft.

  • 3. Halten Sie es für Zielführend, die Verbindlichkeit der Empfehlungen durch einen Volksentscheid zu schaffen, sollten die Empfehlungen nicht von der Politik übernommen werden?

    Prof. Emanuel Richter, IPW RWTH Aachen:

    Die Verbindung mit einem Volkentscheid ist natürlich immer sinnvoll. Die Frage ist, ob sie möglich ist. Bei uns auf der Länderebene und in den kommunalen Bereichen ist ja einiges möglich, wobei das ja unterschiedlich verteilt ist auf die Bundesländer. Bürgerräten automatisch Verbindlichkeit zuzusprechen, halte ich allerdings für schwierig.

     

    Dr. Manfred Brandt:

    Ja, da gibt es unterschiedliche Möglichkeiten: Wir haben ja im Moment auf Bundesebene noch nicht die Möglichkeit für Volksabstimmungen. Deswegen würde ich damit anfangen, auf kommunaler Ebene und auf Landesebene Bürgerräte als Verfahrensbestandteil von Volksabstimmungen bzw. Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden einzuführen.

     

    Prof. em. Werner Patzelt:

    Grundsätzlich bin ich ohnehin für mehr Volksentscheide – allerdings für die richtigen, nämlich solche, bei denen die Initiative nicht von Bürgermeistern oder Regierungsmitgliedern ausgeht, sondern allein von der Zivilgesellschaft und ihren Organisationen, einschließlich der Parteien. Im Fall des von mir befürworteten Bürgergutachtens geht es aber gar nicht um die Einleitung eines plebiszitären Verfahrens, sondern um einen Vorschlag für die ihrerseits Entscheidungsberechtigten. Denen darf die Verantwortung für die Verwirklichung oder Ablehnung des im Bürgergutachten Vorgeschlagenen auf keinen Fall abgenommen werden – etwa in der Weise, dass sie nun einen Volksentscheid über die Vorschläge im Bürgergutachten herbeiführten. Sehr wohl aber sollte es die – auf Landes- und Bundesebne leider noch völlig fehlende – Möglichkeit eines „Veto-Referendums“ geben, also: die Möglichkeit einer Volksabstimmung mit der einfachen Frage, ob eine Parlaments- oder Regierungsentscheidung in Kraft treten oder nicht in Kraft treten soll.

  • 4. Wer sollte entscheiden können, wann und über welche Themen ein Bürgerrat stattfindet?

    Prof. Emanuel Richter, IPW RWTH Aachen:

    Es wäre gut, wenn es einen Bürgerrat auch von unten geben könnte. Es gibt ja mittlerweile eine gewachsene Aufmerksamkeit der Bürgerinnen und Bürger bei Maßnahmen im Nahraum, also zum Beispiel bei Infrastrukturprojekten, bei Umweltragen, bei Innovationsfragen. Wenn sich da gewählte Amtsträger nicht um die Bürgerinteressen kümmern, neigen die Bürgerinnen und Bürger vermehrt dazu, sich Gehör zu verschaffen. Sie können zum Ausdruck bringen, dass eine Materie genauer behandelt werden sollte und dass es andere Positionen zu dem Thema gibt. Ein selbst in Gang gesetzter Bürgerrat könnte solche Wünsche auffangen.

     

    Dr. Manfred Brandt:

    Über Parlamente und Gemeindevertretung aber auch über Bürgerbegehren und Volksinitiativen sollten die Themen gesetzt werden.

     

    Prof. em. Werner Patzelt:

    Einerseits muss das jenes Gremium sein, das über die anstehende Sache abschließend zu entscheiden hat. Und andererseits sollte, wie bei der Volksinitiative im Volksgesetzgebungsverfahren, das Recht auf die Herbeiführung des umrissenen Verfahrens auch bei einer qualifizierten Minderheit derer liegen, die von der anstehenden Sache betroffen sind sowie zur Wählerschaft des Entscheidungsgremiums gehören.

  • 5. Können losbasierte Bürgerräte als Feigenblatt missbraucht werden um verbindliche Volksentscheide zu umgehen? (Siehe Grundsatzprogramm von Bündnis90 Die Grünen)

    Prof. Emanuel Richter, IPW RWTH Aachen:

    Ich glaube es ehrlich gesagt nicht. Der Mechanismus ist ja, dass der Bürgerrat zuerst kommt, und wenn er dann keinen Erfolg hat oder die Beteiligten zu der Überzeugung gelangen, dass ihre Empfehlungen nicht angemessen behandelt werden, dann kann man ja (solang die Länderregelungen das zulassen, und in Rheinland-Pfalz ist das ja möglich), einen Volksentscheid anstreben. Die Instrumente der Bürgerbeteiligung lassen sich so oder so den Bürgerinnen und Bürgern nicht aus der Hand schlagen.

     

    Dr. Manfred Brandt:

    Die Grünen sind inzwischen eine ganz normale Partei, die sich in etablierten Entscheidungs- und Machtprozessen bewegt (Macht ist nicht negativ gemeint). Und das führt wie bei allen etablierten Parteien dazu, dass Macht nicht gerne abgegeben wird ans Volk. Deswegen versuchen sie von ihrer klassischen Position für Volksabstimmungen runter zu kommen. Die Durchsetzung bundesweiter Volksabstimmungen wird also nicht einfacher.

     

    Prof. em. Werner Patzelt:

    Falls man solche „Bürgerräte“ anders organisiert oder mit anderen Verfahrensrechten ausstattet, als ich das – unter Weiterführung der Ideen von Peter Dienel – soeben ausgeführt habe, kann das sehr wohl geschehen. Also sollte man sich genau an das hier vorgeschlagene Verfahren halten und dabei sämtliche Möglichkeiten für solche Manipulationen ausschließen, die das Verfahren der Erstellung eines Bürgergutachten, die Verantwortlichkeit des Entscheidungsgremiums oder die Verbindlichkeit eines Vetoreferendums betreffen.

Was ist ein Bürgerrat?

Ein Bürgerrat besteht aus zufällig ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern, die über eine bestimmte politische Frage diskutieren und dann gemeinsam Empfehlungen an die Politik abgeben. Die Zufallsauswahl ermöglicht es, dass Menschen sich treffen und diskutieren, die sonst nicht so zusammengekommen wären, und die gemeinsam ein möglichst genaues Abbild der Bevölkerung wiederspiegeln. Weitere Kernpunkte eines Bürgerrats sind die regelmäßigen Treffen und die professionelle Moderation. Ein weiterer zentraler Punkt ist die Information der Bürgerinnen und Bürger. Diese erhalten sie im Vorfeld an die Diskussionen von Expertinnen und Experten sowie Betroffenen. Das Ergebnis eines Bürgerrats sind Empfehlungen für die Politik, die in einem sogenannten Bürgergutachten festgehalten werden.

Auf Bundesebene gab es bislang 3 Bürgerräte: Den Bürgerrat Demokratie, den Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt und den Bürgerrat Klima.

Mehr Informationen zu Bürgerräten finden Sie hier.