Interview mit Prof. em. Werner Patzelt über Bürgerräte

Mehr Demokratie: Wie viel Mehr an Demokratie ist in gelosten Bürgerräten?

Man sollte nicht den großen Begriff „mehr Demokratie“ verwenden, sondern lieber von „besserer Einbringung bürgerschaftlichen Sachverstands in politische Prozesse und Entscheidungen“ sprechen. Falls man ansonsten unter „gelosten Bürgerräten“ das versteht, was Peter Dienel schon vor langer Zeit das „Planungszellenverfahren“ genannt hat, dann halte ich das für eine sehr wertvolle politische Innovation, die wir endlich selbstverständlich machen sollten. Folgendes ist der von mir unterstützte Grundgedanke: Um eine konkrete Entscheidung vorzubereiten, werden aus der Einwohnermeldedatei einer Kommune 20, 30 Leute nach dem Zufallsprinzip ausgelost; diese werden von ihrer Berufsarbeit für zwei, drei Wochen freigestellt, und zwar unter Entschädigung ihres Arbeitgebers; angeleitet von einem geeigneten Moderator arbeiten sie dann erst in kleinen Gruppen, dann im im Plenum einen Vorschlag für die anstehende Entscheidung aus, und zwar unterstützt von sachkundigen Verwaltungsmitarbeitern oder Experten; und dieser Vorschlag wird den Entscheidungsbevollmächtigten dann in Gestalt eines Bürgergutachtens vorgelegt sowie auch veröffentlicht. Dieses Verfahren sollte man bei kommunalen Infrastrukturentscheidungen usw. viel öfter als bislang benutzen.

 

Mehr Demokratie: Wie kann die Unabhängigkeit des Bürgerrats gewahrt werden? Sehen Sie die Gefahr eines Missbrauchs durch Parteien oder Organisationen durch einseitige Expertenauswahl?

Falls aus der Einwohnermeldedatei wirklich eine Zufallsstichprobe gezogen wird, kann es dabei zu keiner Manipulation kommen. Und die Moderatoren müssen eben darauf achten, dass die beigezogenen Verwaltungsmitarbeiter oder Experten nicht als Parteivertreter auftreten, sondern in den Beratungsprozess nur Tatsachen-, Zusammenhangs- und Ordnungswissen einbringen, sich aber eigener Entscheidungsvorschläge enthalten. Sobald diese Grundsätze nicht eingehalten werden, kann man sich das ganze Verfahren ohnehin sparen, weil es dann nur das nachspielte, was auf dem üblichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess ohnehin abläuft.

 

Mehr Demokratie: Halten Sie es für zielführend, die Verbindlichkeit der Empfehlungen durch einen Volksentscheid zu schaffen, sollten die Empfehlungen nicht von der Politik übernommen werden?

Grundsätzlich bin ich ohnehin für mehr Volksentscheide – allerdings für die richtigen, nämlich solche, bei denen die Initiative nicht von Bürgermeistern oder Regierungsmitgliedern ausgeht, sondern allein von der Zivilgesellschaft und ihren Organisationen, einschließlich der Parteien. Im Fall des von mir befürworteten Bürgergutachtens geht es aber gar nicht um die Einleitung eines plebiszitären Verfahrens, sondern um einen Vorschlag für die ihrerseits Entscheidungsberechtigten. Denen darf die Verantwortung für die Verwirklichung oder Ablehnung des im Bürgergutachten Vorgeschlagenen auf keinen Fall abgenommen werden – etwa in der Weise, dass sie nun einen Volksentscheid über die Vorschläge im Bürgergutachten herbeiführten. Sehr wohl aber sollte es die – auf Landes- und Bundesebne leider noch völlig fehlende – Möglichkeit eines „Veto-Referendums“ geben, also: die Möglichkeit einer Volksabstimmung mit der einfachen Frage, ob eine Parlaments- oder Regierungsentscheidung in Kraft treten oder nicht in Kraft treten soll. Selbstverständlich darf eine solche Abstimmung auch nicht von oben her, sondern nur durch die Sammlung einer angemessenen Anzahl von Unterstützungsunterschriften herbeigeführt werden. Sobald die Zivilgesellschaft nämlich ein Veto-Referendum auslösen kann, entfaltet es Vorauswirkungen auf an die Entscheidungsberechtigten. Die werden dann nämlich sehr gute Gründe haben und verteidigen müssen, wenn sie sich über die Vorschläge eines Bürgergutachtens hinwegsetzen wollen.

 

Mehr Demokratie: Wer sollte entscheiden können, wann und über welche Themen ein Bürgerrat stattfindet?

Einerseits muss das jenes Gremium sein, das über die anstehende Sache abschließend zu entscheiden hat. Und andererseits sollte, wie bei der Volksinitiative im Volksgesetzgebungsverfahren, das Recht auf die Herbeiführung des umrissenen Verfahrens auch bei einer qualifizierten Minderheit derer liegen, die von der anstehenden Sache betroffen sind sowie zur Wählerschaft des Entscheidungsgremiums gehören.

 

Mehr Demokratie: Können losbasierte Bürgerräte als Feigenblatt missbraucht werden um verbindliche Volksentscheide zu umgehen? (Siehe Grundsatzprogramm von Bündnis90 Die Grünen)

Falls man solche „Bürgerräte“ anders organisiert oder mit anderen Verfahrensrechten ausstattet, als ich das – unter Weiterführung der Ideen von Peter Dienel – soeben ausgeführt habe, kann das sehr wohl geschehen. Also sollte man sich genau an das hier vorgeschlagene Verfahren halten und dabei sämtliche Möglichkeiten für solche Manipulationen ausschließen, die das Verfahren der Erstellung eines Bürgergutachten, die Verantwortlichkeit des Entscheidungsgremiums oder die Verbindlichkeit eines Vetoreferendums betreffen.

 

Das Interview führte Ina Kuhl.